Wenn wir über andere Menschen nachdenken, so denken wir doch immer irgendwie aus unserer Perspektive darüber nach. Wir können unsere Perspektiven nicht abschalten. Wenn wir mit anderen Menschen streiten, sie verurteilen oder uns verletzt fühlen, dann tun wir dies doch in den meisten Fällen, weil wir uns nicht hineinversetzen können, in das Denken und Fühlen der anderen Personen. Vielleicht wollen wir das aber auch oft nicht. Wir sind verletzt, weil wir auf eine andere Reaktion, ein anderes Verhalten gehofft hatten. Dieses Verhalten, das wir erwartet hätten, entspricht unserem moralischen Kodex, den wir aus unterschiedlichen Hintergründen erworben haben.
Doch wie sinnvoll ist dieses Verfahren überhaupt, wenn wir uns doch eigentlich immer fremd sind? Wie sinnvoll ist ein Verfahren des Urteilens, wenn wir uns bewusst werden, dass wir uns nie in andere Menschen hineinversetzen können?
Ist Gleichgültigkeit eine Alternative oder stirbt mit dem Akt der Gleichgültigkeit jegliche Hoffnung auf irgendeine Art von Moral? Oder ist diese Hoffnung auch nur eine romantisierende Form eines eigentlich sinnlosen Lebens?
Vielleicht hilft der algerische Philosoph Albert Camus weiter…
Ich habe mich in diesen Wintermonaten wieder einmal dazu entschlossen, Albert Camus zu lesen. Er ist ein fabelhafter Autor gewesen. Selbst die deutsche Übersetzung lässt mich tausendmal von vorne beginnen.
Nachdem ich bereits den Fall interpretiert hatte, wollte ich mir nun den Fremden vornehmen. Das Buch wurde 1967 von Luchino Visconti mit den Hauptrollen Marcello Mastroianni und Anna Karina verfilmt. – empfehlenswert!
Worum geht es?
Der Fremde handelt von einem Menschen, der durch Zufälle in einen Mord verwickelt wird.
Meursault ist ein Büroangestellter in Algier und lebt ein normales und unscheinbares Leben.
Alles beginnt damit, dass er über den Tod seiner Mutter schreibt. Dort heißt es:
„Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht. Ich habe ein Telegramm vom Heim bekommen: „Mutter verstorben. Beisetzung morgen. Hochachtungsvoll.“ Das will nichts heißen. Es war vielleicht gestern.“
Albert Camus: Der Fremde, übers. von Uli Aumüller. Frankfurt am Main: Rowohlt Taschenbuchverlag, 66. Aufl., 2013, S. 7.
Meursault beschließt zur Totenwache in der Nähe des Altersheimes in Marengo, 80 Kilometer von Algier entfernt, zu verreisen. Er scheint äußerlich nicht besonders mitgenommen zu sein. Die Mitarbeiter des Altenheimes wirken verwundert, als er nicht um das letzte Betrachten seiner verstorbenen Mutter bittet. Auch weint er nicht auf der Totenwache, was die Umgebung verwirrt auffasst.
So setzt sich die Geschichte fort. Alles was Meursault erlebt, erlebt er in einer Art von Gleichgültigkeit. Seine Geliebte Marie bittet immer wieder um ein Liebesgeständnis seinerseits, woraufhin Meursault gleichgültig reagiert. Seine Antwort ist, dass es keine Rolle spielen würde, ob er sie denn liebe oder nicht liebe.
Als sie gelacht hat, bekam ich wieder Lust auf sie. Kurz darauf hat Sie mich gefragt, ob ich sie liebte. Ich habe geantwortet, dass das nichts hieße, dass es mir aber nicht so schiene. Sie hat traurig ausgesehen. Aber während des Kochens und wegen nichts hat sie wieder so gelacht, dass ich sie geküsst habe.“
Ebd., S. 49.
Auch ein Angebot für einen Karrieresprung mit dem Umzug nach Paris lehnt er gleichgültig ab. Irgendwie scheint, nach seiner Studentenzeit, jeglicher Sinn im Leben von Meursault verloren gegangen zu sein.
Er hat mir erklärt, er wollte mit mir über ein noch sehr vages Projekt sprechen. Er wollte nur meine Meinung dazu wissen.[…] Das würde es mir ermöglichen, in Paris zu leben und auch einen Teil des Jahres zu reisen. „Sie sind jung, und mir scheint, es ist ein Leben, das Ihnen gefallen muss.“ Ich habe ja gesagt, dass es mir im Grunde aber egal wäre. Da hat er mich gefragt, ob mich eine Änderung in meinem Leben nicht reizen würde. Ich habe geantwortet, dass man sein Leben nie änderte, dass eins so gut wie das andere wäre und dass mein Leben hier keineswegs missfiele.
Ebd., S. 56.
Zugespitzt wird diese Sinnlosigkeit mit dem Hauptakt der Geschichte: Ein Mord. Meursault tötet während eines Strandaufenthaltes einen jungen Mann. Dieser Mord führt zum Gerichtsprozess, der philosophische Fragen nach Schuld, Menschlichkeit und Mitgefühl aufwirft. Gerade die scheinbare Gleichgültigkeit von Meursault gegenüber dem Akt des Mordes scheint die Schwere des Gerichtsurteils hervorzurufen.
Mir wurde klar, dass ich das Gleichgewicht des Tages zerstört hatte, die außergewöhnliche Stille eines Strandes, an dem ich glücklich gewesen war. Da habe ich noch viermal auf einen leblosen Körper geschossen, in den die Kugeln eindrangen, ohne dass man es ihm ansah. Und es war wie vier kurze Schläge, in denen ich an das Tor des Unglücks hämmerte.
Ebd., S. 79.
Am Ende der Geschichte wird dabei vor allem auf die Problematik des mangelnden Schuldeingeständnisses oder des mangelnden Gewissens von Meursault eingegangen. So spricht der Staatsanwalt:
[…] Gewiss können wir uns nicht beschweren, dass ihm das, was er nicht erwerben kann, fehlt. Aber hier, vor diesem Gericht, muss sich die ganze negative Tugend der Toleranz in die weniger leichte, aber höhere der Gerechtigkeit verwandeln. Zumal, wenn die Leere des Herzens, wie sie bei diesem Mann zu beobachten ist, ein Abgrund wird, in dem die Gesellschaft umkommen kann.“
Ebd., S. 132.
Die Frage ob M. auch ein Psychopath ist, ist naheliegend, wird aber hier nicht länger erläutert.
Was ich erstaunlich fand, war Camus´ Idee, dass M. bis zu seinem Ende immer wieder von seiner Mama spricht. Auch wenn er mit seinem Verhalten den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht, so denkt er doch immer wieder an seine Mama – deren Tod sozusagen als Ursache des ganzen Übels erkannt werden kann.
Vielleicht fordert Camus damit, dass wir mehr Verständnis aufbringen sollten für die unterschiedliche Verarbeitung von Trauer. (Kurze Erinnerung: Das Buch wurde 1942 veröffentlicht!) Das hat nichts mit M.´s Mord zu tun oder seiner Relativierung. Es ist aber die Auseinandersetzung damit, inwieweit wir überhaupt fähig sind uns moralisch zu verurteilen – als dauerhaft Fremde den Anderen gegenüber.
Was ist die Philosophie dahinter?
Gleichgültigkeit als Amoralität:

Die größte Hürde, die andere mit ihm haben werden, ist seine Gleichgültigkeit. Für die Richter scheint es letztlich darauf hinauszulaufen, dass er aufgrund von Gleichgültigkeit der höheren Schuld zugesprochen wurde.
Der Fremde ist also ein Werk, das genau diese Fragen nach Gleichgültigkeit in einer Gesellschaft aufwirft. Das Buch fragt auch nach der Bedeutung von Moral und nach den Grundformen menschlicher Natur. In diesem Zusammenhang wird die Philosophie des Absurden von Albert Camus nochmals deutlich.
Die Absurdität des Lebens:

Darin behauptet Camus, dass das Leben, zum Widerspruch deutscher Moralphilosophie, keinen Sinn ergibt. Es gibt keine Regeln, die objektiv allgegenwärtig richtig oder falsch seien. Noch gebe es eine bestimmte richtige Form des guten und gelungenen Lebens. Es gibt nur dieses eine Leben, das eben absurd ist und wir Menschen scheinen wie Sisyphos auf einen Sinn abzuzielen, den wir allerdings, wie Sisyphos, niemals erreichen werden.
Eine mögliche Konsequenz: Die Lebensbejahung
Während Meursault diese Absurdität als Begründung seiner Gleichgültigkeit sieht, ist meine Konsequenz die Form der Lebensbejahung, wie sie unter anderem auch Nietzsche einforderte.
Selbst wenn wir davon überzeugt sind, dass das Leben keinen Sinn macht, so gibt es einen Sinn, nämlich den des Lebens an sich. Vielleicht ist das auch der einzige Sinn überhaupt: Das Leben. Wir sollten dem Leben bejahend entgegen treten. Wir können und müssen uns dazu frei entscheiden.
Welche Ziele wir erreichen oder eben nicht erreichen, all das sind Entscheidungen, die durch eine Lebensbejahung an Relativität verlieren. Sie sind wichtig, weil sie uns wichtig sind. Es geht nicht darum, eine Objektivität zu erhalten, sondern darum, was für uns selbst als das Richtige erscheint. Dass das mit Konflikten und Problemen ein hergeht, ist nicht zu verleugnen. Aber es schafft zumindest ein Leben, das wir aktiv versuchen zu leben. So gut wie es möglich ist.
Ich persönlich glaube zum Beispiel an die Liebe. Ich glaube daran, dass wir Menschen einander lieben und uns dadurch für ein Miteinander entscheiden können. Ich glaube auch daran, dass jede Begegnung einzigartig sein kann, wenn wir zumindest versuchen sie wirklich anzunehmen. Wir haben dieses eine Leben und ich denke, dass eine Lebensbejahung der einzige Ausweg aus dieser Absurdität des Lebens sein kann.


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